„Mein Leben in der DDR“ – Mario Röllig am Leibniz-Gymnasium
„Es gibt allen ernstes Politiker, die immer noch darüber diskutieren möchten, ob die DDR wirklich eine Diktatur und ein Unrechtsstaat war“ – mit dieser Bemerkung eröffnete Mario Röllig seinen Vortrag vor rund 120 Schülern der zehnten Jahrgangsstufe des Leibniz-Gymnasiums.
Auf Einladung von Theresia Weber, Geschichts- und Sozialkundelehrerin am Altdorfer Gymnasium, berichtete Röllig als Zeitzeuge von seinem Leben in der DDR und seinen Erfahrungen mit der Stasi, vor allem nachdem er sich weigerte, einen Freund auszuspionieren. Röllig dazu: „Ich habe in der Haft Tage erlebt, an denen ich gedacht habe, es wäre besser zu sterben – und dann andererseits Tage, an denen ich mir vorgenommen habe: Keine Träne für die Schweine!“ – gemeint war damit die Stasi.
Rölligs Leben als Kind und Jugendlicher in der DDR war im Allgemeinen unspektakulär, und doch lebte die Familie mit einer Lüge: Nur hinter der geschlossenen Wohnungstür wurden Wahrheiten über den Staat und die Gesellschaft frei ausgesprochen. Für das Leben außerhalb der Wohnungstür galt für den jungen Röllig der Rat der Eltern: Passe dich an, ordne dich unter, übe nicht Kritik, sonst kannst du später Probleme bekommen.
Der Alltag war nicht viel anders als heute, allerdings gab es zu allem eine ideologische Überlagerung – Gregor Gysi macht damit noch heute Werbung, und lobt Errungenschaften der DDR, zum Beispiel die günstigen Mieten und die fortschrittliche Frauen- und Mütterarbeit. Röllig: „Die Kosten dieser Errungenschaften fehlen in der Bilanz der Linken: Fehlendes Geld für Sanierung und Instandhaltung der Gebäude führte zum Verfall ganzer Städte; die Mutterliebe wurde schon im Kleinkindalter durch Erziehung im Sinne der SED ersetzt: Im Hort und Kindergarten sollten alle Kinder möglichst gleichzeitig auf die Toilette und zur gleichen Zeit zum Mittagessen, um militärische Strukturen möglichst früh für selbstverständlich zu nehmen; auch lernten wir spielerisch marschieren und erhielten regelmäßig Besuch von der Patenbrigade der NVA. Ganz normal spielten wir im Kindergarten mit Plastikpanzern und Spielzeugsoldaten Krieg gegen den imperialistischen Gegner – die BRD und deren Verbündeten, die USA.“
Seine erste persönliche Erfahrung fehlender Freiheit machte Mario Röllig 1974 bei seiner Einschulung. Westdeutschland war gerade Fußballweltmeister geworden, und aus dem Westen hatte er von Verwandten ein gelbes Trikot mit dem Konterfei Franz Beckenbauers bekommen. Stolz trug er dieses beim morgendlichen Fahnenappell am ersten Schultag. Inmitten blau-weißer FdJ – Uniformen war er der gelbe Fleck in der Menge. Die Lehrerinnen für russisch und Staatsbürgerkunde meldeten den Siebenjährigen beim Schulleiter, und dieser führte ihn vor seiner Klasse vor, indem er die Kinder gegen das T-Shirt aus dem kapitalistischen Westen mobilisierte.
Diese Lektion merkte sich Röllig. In der Schule und bei den jungen Pionieren wollte er fortan keine Probleme haben, indem er sich für sich oder für andere einsetzte. In einem System, in dem Schulleistungen ebenso wichtig wie die Einstellung zur DDR waren, konnte so etwas die Möglichkeit kosten, Abitur und Studium zu erreichen. Auf Rat des Vaters entschied er sich schließlich aber für den Beruf des Kellners, da es in der DDR einen Mangel an Restaurants gab. Röllig: „Bei uns galt der Satz: Der Gast ist König, der Kellner ist Kaiser. Mein Arbeitsplatz war das Flughafenrestaurant in Berlin-Schönefeld; daher waren unter den Gästen viele westdeutsche Reisende, die mit Westmark bezahlten. Mein Trinkgeld machte mich reich, so dass ich ein viel höheres Einkommen hatte als ein Lehrer oder selbst ein Stasi-Offizier“. Röllig konnte so recht bequem leben und oft verreisen. Allerdings endete diese Phase, als er 1985 einen Westberliner Freund kennenlernte, der ihn von West-Berlin aus häufig besuchte. Durch diese Besuche wurde die Staatssicherheit der DDR auf ihn aufmerksam, die sich für den Besucher aus dem Westen interessierte. Röllig erhielt daher eines Tages Besuch von Mielkes Agenten, die sich für Stärken, Schwächen und alle Details des Freundes interessierten. Ziel der Stasi war es, den Freund angreifen zu können – denn dieser war Staatssekretär in Westberlin. Damit Röllig verstand, dass er es mit einer höheren Macht zu tun hatte, setzten die Besucher ihm auch seine Welt auseinander: Sie wussten, wie er seinen 18. Geburtstag gefeiert hatte, welches Auto er bestellt hatte, wie seine Wohnsituation im elterlichen Haus ist, wie das Verhältnis zu seinen Eltern – und machten ein Angebot: Für die Ausspähung des Staatssekretärs Liefertermin des Autos sofort, eine große Wohnung in einem von ihm frei wählbarem Stadtviertel und dergleichen mehr.
Rölligs Antwort, er wolle gern in Charlottenburg wohnen, ließ die Stimmung eisig werden: Den Westberliner Stadtteil fanden die Stasi-Offiziere nicht lustig. Innerhalb von Tagen wurde Röllig zum Tellerwäscher in einem Bistro eines Ostberliner S-Bahnhofs degradiert; laufend bemerkte er Männer, die Fotos von ihm machten – die Stasi zeigte ihm ihre Macht. Röllig entschloss sich daher zur Flucht aus der DDR. Über die grüne Grenze wollte er von Ungarn nach Jugoslawien. Ihm gelang am 25. Juni 1987 die Annäherung an die Grenze.
Dann jedoch wurde er in Sichtweite der Freiheit aufgegriffen, festgenommen und schließlich mit anderen Jugendlichen der Stasi übergeben. Diese flog ihn von Ungarn nach Ostberlin; vom Flughafen aus wurde Mario Röllig in einem kleinen getarnten Lieferwagen der Stasi in ein Gefängnis gefahren – in völliger Unkenntnis, wo sich das Gefängnis überhaupt befindet. Erst zehn Jahre später las er in seiner Stasi-Akte, dass er sich im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen befunden hatte.
Dort wurde er überfallartig psychisch misshandelt; in Einzelhaft, ohne Lesestoff, Anwalt oder Kontakt zur Außenwelt und der Androhung von Dunkelarrest im Keller beschloss er: „Hier den Helden zu spielen bringt nichts.“
Röllig über diese Zeit: „Ich habe monatelang keine Wiese, keine Blume und keinen Baum gesehen; auch gab es keinerlei Kontakt zu Mitgefangenen; schöne Momente erlebte ich, wenn am Himmel ein PAN AM – Flugzeug vorüberflog. Ich dachte mir: Eines Tages sitze ich darin! Wenn ich den Traum der persönlichen Freiheit nicht in mir gehabt hätte, wäre ich zugrunde gegangen. Am schlimmsten war für mich das Warten auf das Nichts.“
Das Ziel der Stasi war es, die Häftlinge für Verhöre mürbe machen. Rölligs einzige menschliche Kontakte waren die Wärter und die Offiziere der Staatssicherheit – und deren Ziel war es, die Häftlinge psychisch zu brechen. Röllig war von der Isolationshaft so fertig, dass er einen Offizier um Bücher bat. Er erhielt Reiseliteratur – besonders „passend“ für einen Häftling, der hinter dem Eisernen Vorhang im Gefängnis der Stasi-Schergen sitzt.
Röllig hat über Wochen während der Verhöre die Blätter der Wandtapete im Büro gezählt, um nichts über Freunde, Kollegen oder Verwandte zu verraten – 582 Blätter. Irgendwann hielt er dem Druck nicht mehr Stand. In seinem Fall war der schnelle Freikaufpreis als politischer Häftling für die DDR wichtiger, als eine lange Haftstrafe. Röllig wurde offiziell nach 3 Monaten Untersuchungshaft amnestiert, mit der Auflage drei Jahre Bewährung. Röllig: „Meine Eltern haben heimlich unter Risiko Kontakt zu Freunden im Westen aufgenommen. Über einen prominenten Rechtsanwalt kam ich dann auf die Freikaufsliste der Bundesregierung für politische Häftlinge aus der DDR. Viel später erfuhr ich, dass für mich etwa 90.000 DM gezahlt wurden.“
Am 7. März 1988 erreichte ihn die Nachricht der Entlassung aus der DDR in die Bundesrepublik. Zum Abschied sagte ihm ein Stasi-Beamter: „Wenn sie über das, was Sie erlebt haben sprechen, denken Sie daran: Ein Autounfall kann Ihnen auch im Westen jederzeit passieren. Und Ihre Eltern haben wir ja auch schon kennengelernt.“
Seit 1988 feiert Mario Röllig jedes Jahr zweimal Geburtstag: Einmal normal, und einmal am 8. März, an dem er endlich in Freiheit war.
Zum Abschluss seines ergreifenden Vortrags warb der Zeitzeuge bei den Zehntklässlern in Altdorf für einen Besuch der Gedenkstätte Hohenschönhausen in Berlin – und für Offenheit Flüchtlingen gegenüber: „Ich habe einen Schutzengel gehabt. Eine Diakonie-Schwester auf dem ersten Bahnhof in Freiheit, in Wolfsburg half mir; mit ihrer Unterstützung konnte ich von Hannover nach West-Berlin fliegen, und wurde von Freunden sehr herzlich empfangen.“
Mario Röllig: „Ich fühlte mich als Flüchtling im Westen willkommen. Ich werbe aus eigener Erfahrung leidenschaftlich dafür, für Flüchtlinge eine offene Willkommenskultur zu pflegen.“ Menschen mit Empathie zu begegnen, die nach Deutschland kommen, sei gerade auch gut, wenn sie aus den Bürgerkriegsgebieten im Nahen Osten oder über das Mittelmeer zu uns nach Deutschland kommen: „Das war der schönste Moment in meinem Leben: Der Moment, an dem ich über die Grenze nach Westdeutschland gekommen bin und ein selbstbestimmtes Leben führen durfte.“
Text: Christof Böhm
Foto: Bettina Kapperer